Das Ich im Bild - Die Seele der Kunst

Munch - Straße in Asgardstrand  
Munch - Straße in Asgardstrand  

Wenige Dinge können mich derart geistig und emotional stimulieren, als das Betrachten von Gemälden. Wie langweilig, möchten viele sicher schreien, aber keine Sorge, das ist es keineswegs.

 

 

Kunst bleibt ein Bestandteil meines Herzens.  

Gemälde können vieles und gleichzeitig nichts. Ja, das kommt auch ganz auf den Betrachter an. Ihre Farben, die verwendeten Symbole können uns berühren, voyeuristisch in die Seele eines Künstlers blicken lassen, um auch gleichzeitig viel von unseren Emotionen preiszugegeben. Oder sie schaffen es nicht. Dann wendet sich der Blick des Besuchers ab, der Zauber der Kunst erlischt in diesem Augenblick.  

Ich kenne beide Seiten, die des Voyeurs und die der Entblößten. Die, des sich öffnenden, kreativen, leidenschaftlichen, künstlerischen Erschaffenden und die, des Betrachters, der die Emotionen eines anderen aufsaugt.  

Vom neurologischen Standpunkt werden sowohl das limbische System als auch das mesolimbische System angesprochen, das für Angst, Wut aber auch Freude und Belohnung steht. Ein Bild wird zu allererst anhand der Technik analysiert und erst in späterer Folge mit eigenen Erlebten emotional abgestimmt. Hast du solch ein Lieblingsbild?

 

Sehen, fühlen und entdecken 

Für mich ist es Schiele: The Lovers. Das Paar liegt unbekleidet nebeneinander, sie lehnt ihren Rücken zärtlich an seine Brust, er berührt liebevoll ihren Bauch. Ein Gemälde, das an Sinnlichkeit, Erotik und gleichzeitig überschwänglicher Nähe, Vertrautheit und wahrer Liebe kaum überbietbar scheint.  

 

Schiele und Munch waren ausgesprochen interessante Persönlichkeiten. Der Hang zum Wahn, der sich in Schieles Darstellung seiner Hände zeigt, aber auch Munchs imposante mimische Ausdrücke, sprechen für die Leidenschaft der beiden Künstler. Zerrissen zwischen Selbstliebe und Hass, pendelnd zwischen nur schweraushaltbarer Kreativität, Exzentrik und wahnhaften Verhaltensweisen. Mir fallen aber spontan noch andere wegweisende Persönlichkeiten ein, die unser künstlerisches, kreatives Herz, unsere Einstellung zum Leben, zur Liebe, stark geprägt haben, die den fortschrittlichen Geist ihres Publikums mit ihrer progressiven Denkweise inspirierten.  

 

Kunst und Psyche  

Munchs Gemälde „Straße in Asgardstrand“, über das Mädchen, das ihre Heimat zu verlassen scheint ist eines seiner aussagekräftigsten Werke. Nutzen wir die Lebendigkeit dieses Werks für einen kurzen psychoanalytischen Blick. 

Wer war sie? Woher kommt sie – gar von zu Hause? Oder verlässt sie ihre Freundinnen, die sie schon förmlich auszuschließen scheinen und sich dem Tratsch hingeben. Auch ihre Eltern wenden sich teils ab, wenn auch Traurigkeit und Angst, der Wunsch der Eltern sie möge zurückkehren, zu spüren sind.  

Was will sie? Ihr Blick verrät es nicht. Es ist nicht ersichtlich ob ihr Blick den Betrachter vereinnahmt oder er gar die Abbildung des Mädchens.  

Es gibt mehrere Aspekte zu betrachten: Ist sie einsam? Vermutlich, da ihr Weg noch ins Unbekannte, für sie nicht greifbare führt. Sie scheint unglaublich sinnlich. Ihre Augen versprühen Leidenschaft und gleichzeitig Furcht, womöglich von ihrer eigenen Lebendigkeit und Leidenschaft verschlungen zu werden. Trotz ihrer jungen Jahre strahlt ihr Blick etwas (dezent, kaum merklich) erotisches aus. Wartet sie auf einen Mann, der sie an der Hand nimmt und sie durch ihr Leben führt, sei es partnerschaftlich, finanziell, als Lebensberater oder sinnlicher Geliebter? 

Spiegelt sie den Blick des Besuchers wieder? Ist es die reine Interpretationsfreude des Betrachters, die dem Mädchen so viel Ausdruck in ihren Augen verleiht? Handelt es sich doch nur um eine Projektion?  

 

Die Farbwahl, die Distanzen zu einzelnen Figuren innerhalb des Bildes verraten einiges über das Verhältnis zu den Eltern, aber auch zu ihrer Integration innerhalb der Dorfgemeinschaft.  

 

Persönliche Reifung  

Wie man sieht, Gemälde lassen so viel Interpretation sowie psychische Analysen zu. Sie zeigen auch unsere Schattenseiten, tief in uns verborgen. Es lohnt sich, das nächste Mal im Museum die Zeit zu übersehen und mit einigen der Gemälde geistig und emotional zu verschmelzen. Eine ganz neue Form des Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung, die gerade auch in diesen Räumlichkeiten stattfinden können.  

 

 

 Quelle: Tilman Moser Kunst und Psyche