Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Marcel Proust hat eine unglaubliche Begabung, nämlich den von Traurigkeit erfassten Seelen mit Hilfe seines sprachlichen Ausdrucks, Freude zu schenken. Er ist der Bewahrer eines vergessenen Sprachbildes, das von der Moderne abgeschliffen und bis zur Unkenntlichkeit verändert wurde. Seine Sinnlichkeit ist kaum zu übertreffen.

 

Einige Absätze gleichen wundervollen Gedichten, wenn er selbst auch in Prosa schreibt. In seinen Werken finden sich viele beeindruckende Erkenntnisse, gleichwohl er sich nicht bewusst war, dass einige Elemente in unsere Gegenwart Bedeutung fänden. 

Denn Marcel Proust war sich wohl kaum im Klaren, dass seine Werke zum Nachdenken über die Theorie der Schleifenquantengravitation anregen würden. Er versuchte der Frage, warum sich unsere Zeit vorwärts und nicht rückwärts bewegt, lyrisch nachzugehen. In seinen Büchern - auf der Suche nach der verlorenen Zeit - ist er sich der Bedeutung des Verlustes des Gegenwärtigen bewusst: Sekunde für Sekunde, nicht physisch greifbar, aber penibel gespeichert in Teilen des Hippocampus und in unserem Geiste immer wieder abrufbar. Wenn Teilchen, sogenannte Planck Einheiten, deren Zusammensetzung einem Kettenhemd gleichen - sich in unserem Universum ausdehnen, andere dadurch verdrängen und neuen Platz durch Raumausdehnung schaffen, streckt die Zeit ihre filigranen Glieder vorwärts und eben nicht in das Reich des Verlorenen. Interessant wird der Aspekt dann, wenn wir Geschehnisse bewusst gedanklich zurückholen. Das aktive und erneute Erleben vergangener Momente: Wenn wir den vermeintlich vergessenen Geruch der Umgebung wieder wahrnehmen, den schon längst verstummten Stimmen lauschen, verschwommene Gesichter mit all ihren Details in Erinnerung rufen und durch Neuinterpretationen einen Sprung in unsere Gegenwart wagen. Dadurch entsteht eine gedankliche  Vorwärtsbewegung in der wir die Vergangenheit neu kreieren, bewerten und aktualisieren. Doch dann, schon in der nächsten Sekunde - während der ersten, der Vergangenheit folgenden Gedanken - fristet sie erneut ihr Dasein in zerronnener Zeit und wartet darauf, dass wir sie von neuem beschwören und uns an all die unterschiedlichen Aspekte des eigenen Lebens erinnern.

Die Bewegung der Zeit ist also ausnahmslos nach vorne gerichtet, trotz allem kann unser Gehirn bereits Geschehenes in das Hier und Jetzt verschieben. Ist das die Fähigkeit, um die Vergangenheit auszutricksen? Sind unsere Gedanken auf ihre Art und Weise förmlich zeitlos?  Ist jemand, dem eine kognitive Umstrukturierung oder neue Betrachtung von Erlebnissen nicht gelingt, tatsächlich in vergangenen Tagen gefangen? Liegt darin auch der Reiz des Verlorenen? Dies könnte mitunter ein Grund sein, warum Menschen nach einer Trennung davon überzeugt sind, nie wieder jemand passenderen zu finden. Sie schwelgen in (vielleicht auch vom Verstand nachträglich erschaffenen) schönen Erlebnissen.