Bohème als Milieu der Kunstschaffenden

Die Kultur des Bohème ist so weitreichend, wie originell und unfassbar verworren. Mittlerweile habe ich ein detektivisches Gespür für diese Lebensart entwickelt und verschlinge alles was der Büchermarkt zu diesem Thema offenbaren kann. Aber, die Beschäftigung oder meine vibrierende Leidenschaft, fordern seinen ersten Tribut: Umso umfassender die Kenntnisse, desto mehr Fragen formulieren sich in meinem Kopf, breiten sich wie eine Armee aus und sind nicht Willens zu verfliegen. Da hilft es recht wenig, weiterhin leise vor mich hin zu sinnieren. 

Kann ein Autor, der dem bohèmischen Milieu zuordenbar ist, gleichzeitig Angehöriger der Literaturwissenschaften sein? Oder ist es vielmehr so, dass sich die eigene Biografie wandelt? Zuerst die unverfälschte Kreativität, die Freiheit, wenn auch manchmal mit finanziellen Einbußen, zu lieben; um später den Versuch zu wagen all diese bohèmischen, kulturellen Kontexte in einen wissenschaftlichen Diskurs zu verpacken und diese bunten, lebendigen sowie intelligenten Elemente -  als ein in sich geschlossenes Konzept - u.a. auch den vollzogenen Wandel vom Kunsthandwerk zur Professur, zu lehren? Diese Möglichkeit wird in einigen, wenn schon veralteten gesellschaftspolitischen, - psychologischen und soziologischen Texten vehement ausgeschlossen. Von einem literaturwissenschaftlichen Standpunkt ausgehend, existiert eine Künstler-, aber niemals eine Gelehrtenbohème, da der wissenschaftliche dem ästhetischen Aspekt gegenüberstünde und nicht zu einen wäre.

Die Ablehnung meint folgendes: "Künstler in diesem Umfeld haben zu viele Capricen im Kopf. Es fehlt ihnen an Disziplin, Professionalität und Ausdauer." Womöglich ist die Trennung zwischen Schönheit, gefühlvollem Schreiben und rationaler Betrachtung ein Konstrukt der Gesellschaft? 

 

Zum Glück gestaltet sich die Situation in anderen Studiengängen unterschiedlich. Michel Foucault war der bohèmischen Lebensart nicht abgeneigt, später allerdings ein renommierter Professor für Philosophie in Paris.

 

Dieser gedankliche Ansatz führt mich weiter, direkt in den Mittelpunkt, der nur mehr schwer einsehbaren Verzweigungen unseres gegenwärtigen Bildungssystems. Ist das System der Universitäten mit dem nahe am Perfektionismus durchstrukturierten Lehrplan, das für die Bohème passende? Wohl kaum, denn dieses Milieu braucht die Freiheit, die Grauzone, sowohl das Neue & Aufregende, als auch das Verruchte, die pure LEBEN-digkeit, ein "sich ausprobieren" dürfen und natürlich den Hang zu philosophieren sowie und das zeichnet diese Lebensart aus, das (Klein-)Bürgerliche in Frage zu stellen. All das machen Bohèmiens nicht hinter verschlossenen Türen, sondern haben auch den für sie geldbringenden Nutzen der Ostentation im Blick.

 

Die traditionelle Bohèmesemantik lebt von der Zurschaustellung, von der Offenbarung manch ihrer Mythen, auch von der sogenannten Prostitution des oder der Intellektuellen. Ist das Monieren der belesenen Autorenschaft, die sich aus finanzieller Not gezwungen sieht, den Boulevard mit Texten zu bedienen, nicht ein altbekanntes Phänomen? Manche Schriftsteller sind brüskiert darüber, so auch die Autoren von „Tristesse Royal“ - eindeutig einer gewissen Counter-Elite zugehörig - dass sie für ein Publikum schreiben müssten, das ihrem Feindbild einer ungebildeten Sippe entspricht. Die Definition dieser Leserschaft ähnelt dem wenig schmeichelhaften Begriff mit dem Autoren oder Kunstschaffende der Bohème, vor einigen Jahrzehnten noch betitelt wurden: Ein Gesindel, das Marx als Lumpenproletariat verstand. Diese, von ihm geäußerte, denunzierende Bezeichnung "Lumpenproletariat" verwundert mich, konnte man der Bohème schon in damaligen Zeiten eine Affinität sowohl für Kunst als auch Literatur nicht absprechen. Die Interessen entsprachen vielmehr dem Bildungsbürgertum und nicht der breiten Masse. Marx sah sich wohl von deren Denkweisen bedroht. Ein verwirrender Kreislauf gegenseitiger Verachtung, aber nicht minder (psychologisch) faszinierend. 


Doch wieder zurück zu den Autoren: Entspringt dieser bohemischen -  von der eigenen Intelligenz sehr überzeugten - Einstellung,  der manchmal schwierig zu lesende Schreibstil, der dem Publikum den klaren Blick für die gewünschte Interpretation verhüllt?  Ist es vielleicht auch die Versagensangst, all diese Gedanken weder niederzuschreiben noch konstruktiv verarbeiten zu können? Worin liegt der Sinn, ja, eigentlich die Berechtigung eines Autors? Und wer wiederum ist befähigt Kritik zu üben? Sind es Journalisten des Feuilletons, Wissenschaftler oder die allgemeine Leserschaft? Wer beurteilt ein Werk "richtig" und gar "objektiv" ? Mit welchen, wenn nicht vorrangig subjektiven Kriterien, ist der Erfolg eines Textes messbar? 

 

Ich denke, dass ein Schriftsteller die tiefsinnige Bedeutung des Lebens erfassen sollte. Diese mitunter lehrreichen Sichtweisen müssen für Interessierte zugänglich sein. 

Das allerdings scheint mir heute ein nur schwer realisierbares Unterfangen. Wir sind von Blogs, Zeitungen, Essays umzingelt und von Internetforen sowie Onlinemedien überlaufen. Hinzu gesellt sich nun, die sich verschlechternde Qualität der Bildung. Wie ist es also möglich trotz genannter Fakten über alle Bereiche einer Gesellschaft (tiefsinnig) zu schreiben, die sich zusätzlich einer Vielzahl scheinbar unerschöpflichen Möglichkeiten rühmt, aber gleichzeitig noch niemals so gefangen in ihrem Schubladendenken war, wie heutzutage?